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 2. Kapitel ~Kein Leben ohne dich~

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Enrico
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BeitragThema: 2. Kapitel ~Kein Leben ohne dich~   2. Kapitel ~Kein Leben ohne dich~ EmptyMo Aug 22, 2011 8:58 pm

2. Kapitel
~Kein Leben ohne dich~

Die Wellen toben unter mir. Ein rauer Wind schlägt mir meine Haare ins Gesicht. Er reißt an meinem kurzen Hemd und zerrt an meiner Stoffhose. Ich sitze im Schneidersitz auf einem der etlichen Felsen, die auf den Klippen verteilt liegen und sehe der Sonne beim Aufgehen zu. Noch so ein beschissener Tag ohne dich! Ich habe sie alle gezählt. Heute ist der 1851ste. Ich befreie meine Beine schwerfällig aus dem Schneidersitz und winkele sie an. Meine Glieder sind steif und schwer zu bewegen. Meine Arme schlinge ich um die Knie und bette meinen Kopf auf sie. Ich zwinge mich die Augen offen zu halten. Sie brennen wie Feuer und meine Augenlieder sind schwer wie Blei. Nur nicht einschlafen suggeriere ich mir und erhebe meinen Blick.
Irgendwo dort hinter dem Meer liegt meine Heimat. Ich vermisse die Hochhäuser, die verdreckte Luft und den Lärm der vielen Autos. Hier ist es mir zu ruhig und zu sauber. Hier habe ich zu viel Zeit über mich und mein Leben nachzudenken. Was habe ich bis zum heutigen Tag erreicht? Meine Frau und meine beiden Kinder sind tot und als sie noch lebten, war ich ihnen weder ein guter Vater noch Ehemann gewesen. Alles was ich mir seit meinem sechzehnten Lebensjahr aufgebaut habe, ist im Feuer verbrannt. Genau so wie du. Ich schüttelte die Bilder ab, die mir in den Sinn kommen. Ich möchte die Lagerhalle und das Flammenmeer nicht mehr sehen. Ich möchte dich nicht mehr sehen!

“Enrico? Was machst du denn schon wieder hier oben? Du holst dir hier noch den Tod!”, höre ich Robins Stimme hinter mir. Ich wende mich ihr nicht zu, stattdessen lasse ich meinen Kopf wieder auf die Knie sinken. Ein schwerer Seufzer kommt mir über die Lippen. Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen? Ihre Sorge erdrückt mich, ebenso wie ihre Liebe. Ich kann hören, wie ihre Schritte näher kommen. Ihre Stöckelschuhe klappern auf den felsigen Steinboden. Sie kniet sich hinter mich. Ich spüre ihre Arme, wie sie sich um mich legen. Ihren warmen Oberkörper drückt sie eng an meinen Rücken. Mir ist als wenn sich ein schwer Mantel über mich legt und mich einschließt. Ich will das nicht, aber ich bleibe stumm. Ich habe ihr nichts zu sagen, mir fehlt die Kraft sie wegzuschicken.
“Du bist eiskalt!”, haucht sie mir ins Ohr. Ich reagiere nicht auf ihre Worte. Mir ist nicht kalt. Ich genieße es hier zu sein und meinem Körper dabei zuzusehen, wie alle Glieder in dem eisigen Wind steif und unbeweglich werden. Ich möchte nicht zurück in das warme Haus und in mein Bett. Drei endlose Jahre habe ich dort gelegen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte diese Haus brennen sollen, nicht meine Lagerhalle.
Ich seufze erneut während mir die Augen zufallen. Augenblicklich sehe ich die Stützpfeiler hinter denen wir in Deckung gegangen waren. Ich höre den Kugelhagel, der uns um die Ohren geflogen war. Ich höre ihn. Sein raue Stimme, sein schäbiges Lachen. Ich rieche Benzin und höre das Klicken eines Sturmfeuerzeuges, dass er aufschlägt. Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Mein Herz fängt an zu raßen und trommelt gegen meine Rippen. Ich strecke meine Finger aus und fahre mir über die Waden. Die Haut unter der Stoffhose ist vernarbt. Es sticht und spannt während ich den Stoff glattstreiche. Ich hatte meine Schmerzmittel genommen und trotzdem glaubte ich das Feuer spüren zu können, dass meine Beine zerfraß.
“Komm wieder mit rein. Ich bitte dich!”, höre ich Robin in den Wind flüstern. Ich tue so, als wenn ich sie nicht verstehe und hoffe darauf, dass sie einfach wieder geht. Ihre Arme zittern, während sie mich festhält. Sie trägt lediglich ihren Morgenmantel. Sicher ist sie sofort zu mir gekommen, als sie mich durch das Verandafester hier sitzen sah. Ihre Zähne beginnen zu klappern, die Haare an ihrem Unterarm haben sich aufgestellt.
“Bitte”, flüstert sie. Ich weiß, dass sie nur meinetwegen hier kauert und friert und dass sie sich nicht vom Fleck rühren wird, bis ich mit ihr gehe. Aber ich weigere mich. Ich spüre ihr Zittern und höre ihr Zähneklappern und dennoch erreicht mich ihr Leid nicht. Es ist mir egal! Sie muss ja nicht hier sein. Ich bin ihre Aufopferung nicht wert. Ich hebe meinen Blick und sehe wieder hinaus aufs Meer. Der Sturm ist stärker geworden. Wolken  verdeckten die aufgegangene Sonne. Die See wirft sich gegen die Klippen und das Getöse wird lauter. Das Wasser beruhigte mich. Ich will hier bleiben und dem drohenden “Weltuntergang” zusehen. Ich liebte den Sturm und die Blitze, die die Wolken ausleuchten. Vielleicht steigen die Wellen ja noch höher und überfluteten den Vorsprung auf dem ich sitze. Vielleicht nehmen sie mich mit und tragen mich in deine Welt.
“Enrico, bitte steh doch auf! Du machst mir Angst, wenn du so leer vor dich hinstarrst.” Robins Stimme ist lauter geworden. Ihre Worte verschwimmen immer wieder, wenn sie spricht. Heiße Tränen fallen mir auf die Schulter. Ich sehe nicht zurück, ich will sie nicht weinen sehen. Warum tut sie das überhaupt? Warum meinetwegen? Seid Wochen behandle ich sie wie Luft. Konnte sie nicht endlich aufhören mich zu lieben und sich um mich zu sorgen? Wenn sie mich doch nur hassen könnte, dann wäre es leichter einfach in die Wellen zu springen.
Ich zog die Beine enger an meinen Körper und versuchte das schlechte Gewissen abzuschütteln. Es ist noch immer mein Leben und ich entschied, wo ich sitze und wenn es eben hier draußen ist und ich dabei umkomme, so war das meine Entscheidung!
Schritte kommen auf uns zu. Ich erkenne ihn an seinem leichtfüßigen Gang schon, bevor er seine Stimme erhebt und zu uns spricht:
“Robin, lass gut sein! Mit ihm zu reden ist Zeitverschwendung. Lass mich das machen!” Ich hasste es wenn Jan so spricht. Ich bin ihm kräftemäßig unterlegen und das weiß er schamlos auszunutzen. Seit wir hier sind, glaubte er der unangefochtene Chef zu sein und über uns alle zu bestimmen. Besonders über mich. Robin löste sich von mir und steht auf. Sie tritt einen Schritt bei Seite und lässt Jan zu mir.
Ich lege meinen Kopf zurück auf die Knie und wünsche mir einmal mehr, nicht hier zu sein.
“Komm schon! Steh auf!”, raunt Jan mich an. Ich reagiere nicht. Er bleibt vor mir stehen. Ich kann seinen entnervten Blick auf mir spüren. Sein Schatten legt sich über mich, als er sich zu mir herabbeugt. Seine Hand packt meinen Unterarm. Er drückt fest zu, während er mich mit einem Ruck auf die Beine zieht. Erst jetzt sehe ich ihn an. Ich werfe ihm einen Blick aus Verachtung und Hass zu. Wenn er nicht augenblicklich meinen Arm wieder freigab, dann …
Jan hält meinem finsteren Blick stand, er blinzelt nicht einmal. Wir wissen beide, dass ich ihm nichts entgegen zu setzen habe. Ich sehe unter seinem Blick hinweg auf den steinigen Boden. Jan erkennt das scheinbar als erneuten Sieg an. Ein breites Grinsen ziert seine Lippen, als ich flüchtig zu ihm aufsehe. Er setzt sich in Bewegung und zieht mich mit. Ich versuche erst gar nicht mich gegen ihn zu stemmen. Es ist sowieso mein letzter Tag hier. Heute Abend noch werde ich bei dir sein und dieses Mal können sie es nicht verhindern. Ein flüchtiges Lächeln huscht mir über die Lippen, während ich Jan hinterher stolpere. All seine Überheblichkeit und Kraft werden ihm dann nichts mehr nützen. Ich freue mich auf den Moment, wenn er ins Zimmer kommt, auch wenn ich ihn nicht mehr miterleben werde. Robin folgt uns mit langsamen Schritten. Sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtet uns nachdenklich. Es passte nicht zu ihr, dass sie nicht eingreift und ihn so mit mir umspringen lässt. Die Zeit hier hat sie verändert. Ihre seidigen Haare sind stumpf und strohig geworden. Ihre Augen stets sorgenvoll und von Augenringen umrahmt. Sie scheint um zehn Jahre gealtert zu sein. Ob ich daran schuld bin? Ich schüttle diesen Gedanken ab, während ich Jan ins Haus folgte. Niemand zwingt sie, Jan und Lui bei mir zu bleiben. Mir ist sowieso lieber, sie würden einfach verschwinden, dann brauchte ich ihretwegen kein schlechtes Gewissen mehr haben.

Wir betreten das Haus durch die Verandatürbund und laufen ins Wohnzimmer. Mir ist als wenn mir eine warme Wand entgegenschlägt und mir den Atem nimmt. Im Kamin knistert ein Feuer, dass das ganze Zimmer erhitzt hat. Augenblicklich sehne ich mich nach dem eisigen Wind auf den Klippen. Wehmütig sehe ich dahin zurück. Erbarmungslos schleift Jan mich weiter bis zum Couchtisch. Er schubst mich in den einzigen Sessel hier und lässt mich dort ohne ein Wort zurück. Ich weiß nicht wohin er geht und es ist mir auch egal. Ich versuche mich mit beiden Armen auf die Lehen zu stützen und hoch zu drücken, vergebens. Mein Körper gehorcht mir nicht. Er fühlt sich taub und kraftlos an. Ich sinke in den Sessel zurück und hasse mich dafür, mich nicht gegen Jan gewehrt zu haben. Jetzt sitze ich wieder hier in diesem verfluchten Haus und habe nicht die Kraft es zu verlassen. Seufzend bleibe ich sitzen und sehe Robin dabei zu, wie sie die Verandatür nach sich schließt. Sie lächelte gequält. Sie machte sich noch immer Sorgen, das kann ich ihr ansehen und doch seufzt sie erleichtert. Ich bin wieder im Haus und lebe noch, welch Glück, denkt sie sich sicher. Ich rolle mit den Augen. Wenigstens muss ich das hier nur noch bis heute Abend ertragen. Robin kommt mit langsamen Schritten näher. Ihr Lächeln wird sanfter. Hoffentlich umarmt sie mich nicht wieder. Sie läuft an mir vorbei zum Sofa. Auf ihm liegt eine flauschige rote Decke, die sie auf den Arm nimmt. Ich beobachte sie argwöhnisch. Als sie mit der Decke zu mir kommt, setzte ich einen warnenden Blick auf. Ich will ihre Fürsorge nicht.
Robin breitet die Decke vor mir aus und wickelt sie um mich. Ich rolle erneut mit den Augen, als sie vor mir in die Knie geht und ihre Hände auf meinen Oberschenkeln legt.
“Ich mach dir einen heißen Tee. Ja? Dann wird dir schnell wieder warm.” Sie wartet einen Moment auf eine Reaktion von mir. Ich bemühe mich an ihr vorbei zu sehen und sie und ihre Worte zu ignorieren. Einen Tee, das auch noch. Wer bin ich eigentlich inzwischen für sie? Ihr Kind, dass sich nicht allein versorgen kann? Ich brauche keinen Tee und keine Decke. Hier drin ist es heiß genug. Das Leben kommt bereits in meine Finger und Gliedmaßen zurück. Ich kann spüren, wie sich die Wärme mit scharfen Zähnen durch mein Haut beißt. Meine Finger kribbeln erst und brennen schließlich wie Feuer. Ich beiße mir fest auf die Zähne, um nicht schreien zu müssen. Robin sieht mein schmerzverzogenes Gesicht.  Sie erhebt sich hastig und mustert mich mit ihren besorgten Augen.
“Ich weiß schon, deine Beine. Ich hol dir deine Medikamente”, mit diesen Worten verschwindet sie in Richtung Badezimmer. Nichts weiß sie! Die Schmerzen meines Körpers sind mir egal, mit denen kann ich leben. Ich lege den Kopf zurück und schließe die Augen. Ich atme tief ein und wieder aus. Das Stechen in meinen Gliedern wird erträglicher, ganz ohne Schmerzmittel.
Die Bilder, die ich Nachts sehe, sind es, die mir zu schaffen machen. Die Menschen, die mir vertrauten und den Tod gefunden haben. Ich sehe sie in meinen Träumen, ich höre ihre Schreie auch jetzt in meinem Kopf widerhallen. Meine Gedanken gleiten zu Amy und Rene. Die beiden wären heute auf den Tag genau sieben Jahre alt geworden. Sie und meine Frau haben nicht überlebt und das obwohl ich mit dir geblieben bin, um ihnen die Flucht zu ermöglichen. Wie sie wohl gestorben sind? Haben sie sehr leiden müssen? Meinetwegen? Nur weil ich ihr Vater bin? Hat Judy sie bis zum Schluss mit ihrem Leben verteidigt, oder ist sie von ihnen getrennt worden? Ich will mir diese Fragen nicht stellen, sie kommen von ganz allein. Die Bilder dazu tauchen in meinem Kopf auf. Judy, wie sie von unseren Feinden in die Enge getrieben und vor unseren Kindern erschossen wird. Amy und Rene die sich vor Angst aneinander klammern. Ich schüttle den Kopf und öffne die Augen. Das alles möchte ich nicht sehen, möchte mir darüber keine Gedanken machen.

Robin steht vor mir, sie drückt mir eine Tasse Tee in die Hand. Sie legt eine Schachtel Tabletten auf den Couchtisch und schaut mich fragend an. Erwartet sie jetzt etwas ein Danke von mir? Ich sehe auf die braungrüne Flüssigkeit in der Tasse und atme den minzigen Geruch ein. Augenblicklich wird mir schlecht und das obwohl Pfefferminztee der einzige Tee ist, den ich gern trinke. Egal was für Lebensmittel und Getränke ich auch ansehe, immerzu wird mir übel davon. Ich kann und will nichts essen und trinken. Die Tasse stelle ich auf den Couchtisch, ohne etwas zu sagen. Ich kann Robins verzweifelten Blick entnehmen, dass sie damit nicht einverstanden ist, aber das ist ihr Problem, nicht meines. Heute Abend ist sie all diese Probleme und Sorgen los, verspreche ich ihr wortlos.
“Bitte versuche ihn! Wenigstens die halbe Tasse!”, bittet sie mich. Ich wende meinen Blick  absichtlich zur Seite, um ihr mein Desinteresse an ihren Worten zu demonstrieren. Sie schweigt einen Moment lang, dann spüre ich ihre Hand auf meiner Schulter. Ich zucke unter ihrer Berührung zusammen, habe ich doch erwartet, dass sie nun endlich die Nase von mir voll hat und verschwindet.
“Na gut, dann trinkst du ihn eben, wenn du Lust darauf hast”, spricht sie mit Engelsgeduld auf mich ein. Woher nahm sie die eigentlich? Ich an ihrer Stelle hätte sie längst sitzen gelassen. Wieder überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Als sie an mir vorbei in die Küche geht und wie jeden Morgen das Frühstück für uns alle zubereitet, sehe ich ihr nach. Ich will ihr etwas hinter rufen, aber mir fallen keine Worte ein. Ich habe schon so lange nichts mehr gesagt, dass ich glaube es verlernt zu haben. Ich schweige und sehe wieder aus dem Fenster auf das Meer hinaus. Ich stelle mir die Skyline von New York am Horizont vor. Ein Hochhaus an dem anderen, dazwischen buntes Gedränge, überall Menschen und Fahrzeuge. Es klappt nicht, ich sehe nur kahle Felsen, hier und da ein paar Büschel Gras. Kein Haus weit und breit und keine Menschenseele. Ich seufze und lasse mein Kopf zurück auf die Lehne fallen. Ich habe Heimweh und sitze in der Pampa fest, wird mir erst jetzt richtig bewusst. Wer von diesen drei Idioten kam auf die Idee an den Arsch der Welt zu ziehen? Verächtlich schaue ich über die Sessellehne hinter mir. Keiner da. Jan scheint sich mit besseren Dingen zu beschäftigen, als mit mir und Robin hantiert in der Küche. Ich seufze und lege den Kopf wieder zurück. Ich hasse dieses Leben hier!

Die Haustür wird aufgeschlossen.
“Ich bin wieder da!”, höre ich die Stimme von Lui. Wie schön, geh wieder! Noch so einer der mir gerade noch gefehlt hatte. Obwohl. Lui ist der einzige der mich in Ruhe läst. Oft sitzt er einfach nur neben mir und sagt kein Wort, wohl in der Hoffnung, dass ich zu sprechen beginne. Da kann er lange warten! Auch ihm habe ich nichts zu sagen, außer vielleicht: Warum sind wir hier? Aber den Gefallen zu sprechen werde ich weder ihm, noch den anderen beiden tun.
“Robin, schau dir das mal an!”, ruft er in die Küche. Ich höre Robin aus der Küche in den Flur eilen. Einen Moment lang ist ruhe, dann halt ihre Stimme von den Wänden wieder.
“Ohhhr, ist das Süß!”
“Glaubst du das der was für unseren Grieskram?”, will Lui wissen. Mit Grieskram bin wohl ich gemeint? Ich rolle mit den Augen. Was erwarteten sie eigentlich? Das ich, nach allem was passiert ist, fröhlich durch die Zimmer springe?
“Ich weiß nicht, ob das heute ein guter Zeitpunkt dafür ist. Er ist extrem schlecht drauf!”, höre ich Robin sagen. Ich bin nicht schlecht drauf, ich habe mit meinem Leben abgeschlossen, das ist etwas anderes. Ich will gar nicht wissen, was Lui da gefunden hat. Stur sehe ich aus dem Fenster und wünsche mich zurück an die Klippen und in den eisigen Wind. Dort höre ich ihre Gespräche über mich nicht und habe keine Grund mich darüber aufzuregen.

Aus dem Nichts erscheint vor mir ein brauner Karton mit Löchern im Deckel. Ich schrecke aus meinen Gedanken auf und sehe an dem Karton vorbei.
“Hier! Das lag vor unserer Tür!”, erklärt Lui mir und läst den Karton auf meinen Schoss fallen. Er ist schwer und irgendetwas bewegt sich darin. Super, auch das noch, was lebendiges! Was soll ich damit? Argwöhnisch sehe ich Lui an. Das hat nie und nimmer vor unserer Tür gelegen. Wer soll es hier abgelegt haben? Im Umkreis von einem Kilometer wohnen nur wir drei. Was immer das ist, Lui hat es mit voller Absicht besorgt und hier her gebracht. Will er mich eigentlich für dumm verkaufen? Er lächelt erwartungsvoll und wartet scheinbar darauf, dass ich den Karton öffne. Ich zwinge mir ein gespieltes Lächeln ins Gesicht und hebe den Karton von meinem Schoss. Ich strecke die Arme aus, gewillt den Karton vor mir auf den Boden fallen zu lassen, also auf einmal der Deckel abhebt. Zwei blaue Knopfaugen starren mich an. Eine rote Zunge hängt weit aus dem Maul heraus. Sabber läuft in einem langen Speichelfaden an ihr herab. Ich hebe eine Augenbraue, während der Deckel vom Kopf des Tieres fällt und auf dem Boden landet. Spitze Ohren kommen zum Vorschein. Ein graues Fell bedeckt das rundliche Gesicht und zeichnet es wie eine Maske. Große Pfoten lehnten sich auf den Rand des Kartons. Eine kalte Nase berührt meine Wange. Ich halte den Karton weiter von mir weg und tue, was ich die ganze Zeit schon vor habe. Ich lasse den Karton fallen. Unsanft landet das Paket samt Köter auf dem Boden. Der Welpe purzelt aus dem Karton und verschwindet irgendwo unter dem Couchtisch. Ich stemme mich mit den Armen aus dem Sessel und stehe auf. Die Decke werfe ich von meinen Schultern. Luis Blick ruht entsetzt auf mir. Auch Robin sieht mich vom Flur aus mit der selben Fassungslosigkeit an. Ob sie nun endlich begriffen haben, dass mir nicht zu helfen ist? Ich gehe ungehindert um den Sessel herum. Weder Lui noch Robin machen Anstalten mich aufzuhalten. Erst als ich den Flur erreiche, versperrt mir Jan den Weg. Er sieht mich von oben herab an. Ich sehe grimmig zurück und versuche an ihm vorbei zu gehen. Er streckt seine Hand nach mir aus und blockiert meinen Weg. Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein? Ich versuche seinen Arm bei Seite zu stoßen. Jan bleibt davon ungerührt und auch sein Arm bewegt sich keinen Millimeter. Er sieht mich nicht einmal an, während er Lui eine Leine zuwirft. Dieser scheint verstanden zu haben, denn er kriecht unter den Tisch und sucht das Fellbündel, das dort verloren gegangen ist. Ich beobachte ihn argwöhnisch. Wozu sollte er den Köter festbinden? Irgendetwas haben die drei wieder ausgeheckt und ich will bestimmt nicht herausfinden was es ist. Ich schlüpfe unter Jans Arm hindurch und versuche mich in mein Zimmer zu flüchten. Als ich meine Zimmertür erreiche spüre ich Jans festen Griff um meinen Arm. Er zieht mich von der Tür weg und schleift mich bis zur Haustür. Er nimmt vom Garderobenständer meine Jacke und drückt sie mir in die rechte Hand. Als Lui zu kommt, nimmt er ihm die Leine samt Hund ab und legt sie mir in die linke. Dann öffnete er die Tür. Er gibt mir einen kräftigen Stoß in den Rücken: Ich stolpere aus der Haustür heraus und ziehe den Welpen an der Leine mit mir.
“Lass dich erst wieder blicken, wenn du bessere Laune hast!”, ruft Jan mir nach, dann wirft er die Haustür hinter mir zu. Verstört sehe ich auf die geschlossene Tür. Was bitte war das wieder für eine Taktik?
“Jan! Was soll das? Wenn er sich nun von der nächsten Klippe stürzt!”, höre ich Robin protestieren.
“Hör auf ihn ständig zu bemuttern! Er ist alt genug, auf sich selbst aufzupassen!“
“Aber!”
“Kein aber! Deine Mitleidstour bringt nichts, jetzt machen wir es auf meine Art!”, knurrte Jan.
Die Stimmen werden leiser, scheinbar haben sich die Drei ins Wohnzimmer zurück gezogen. Irritiert bleibe ich vor der Tür stehen. Da spricht Jan ja mal wahre Worte. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Ich hasse es wenn Robin sich um mich kümmert, aber das hier fühlte sich auch nicht richtig an. Was tat ich jetzt? Ratlos sehe ich die geschlossene Tür an, dann wandert mein Blick an ihr hinab. Der Welpe sitzt so weit von mir entfernt, wie es die Leine zu läst. Argwöhnisch begutachtet er mich. Beinah glaube ich in einen Spiegel zu sehen. Sicher sehe ich ihn ebenso misstrauisch an, wie er mich.
Und nun, frage ich ihn stumm. Ich mag Hunde, das wissen die Drei. Ich habe so oft mit Skotch und Whisky im Garten Aarons getobt, aber der Köter? Er ist noch ein Welpe und zu nichts zu gebrauchen, außer zum Teppich vollpinkeln und Schuhe zerkauen. Es brauchte viel Geduld und Nerven aus dem einen Wachhund zu machen. Im Moment sieht er so aus, als wenn er vor jedem Eindringling die Flucht ergreift. Besonders vor mir. Ich seufze und setze mich in Bewegung. Langsam steige ich die zwei Treppen hinab. Der Welpe stemmt sich gegen meinen Zug. Ich muss stehen bleiben und sehe zurück. Stur sitzt er auf seinem Hintern und start mich an. Genervt blicke ich zurück. Wie bringe ich das Tier dazu mit mir zu kommen? Vielleicht ist es besser ihn einfach an der Haustür festzubinden und zu gehen. Solln sich die Drei um ihn kümmern. Die haben ihm immerhin hergeschleppt. Ich steige die Treppen wieder hinauf und gehe auf die Haustür zu. Ich will die Leine gerade am Türknauf festmachen, als sich der Vierbeiner in Bewegung setzt. Bevor ich die Haustür reiche, springt er in einem Satz die Treppen hinunter und zerrt an der Leine. Der blöde Köter weiß scheinbar nicht was er will. Ich rolle mit den Augen und folge ihm langsam. Während er vorausstürmt und ich ihm hinterher gehe frage ich mich, was für ein durcheinander an Rassen, wohl diese Promenadenmischung hervorgebracht hat. Seine Augen und die Zeichnung seines Gesichtes erinnern an einen Husky. Sein grau braunes Fell mit dem großen schwarzen Fleck auf dem Rücken an einen Schäferhund. Andererseits, so von der flachen Stirn her? Haben sich diese Idioten etwa einen Wolfsmix aufschwatzen lassen? Diese rissen Pfoten können unmöglich die eines Hundes sein. Der Köter erinnert mich tatsächlich an das Symbol meines Clans. Aber haben Wolfswelpen nicht ab einem bestimmten Alter einen Fluchtinstinkt vor dem Menschen? Über was denke ich hier eigentlich nach? Ist das Jans Absicht gewesen? Mir eine Aufgabe und Verantwortung aufzuzwingen, damit ich eben nicht vom nächsten Felsen ins Meer springe? Ich habe tatsächlich seid dieser Köter aufgetaucht ist nicht mehr an heute Abend gedacht. Was für ein mieser Trick.
Der Welpe tapst von einem Bein auf das andere und schnüffelt an jedem Grashalm, an dem wir vorbei kommen. Ich frage mich, was es da so interessantes gibt? Noch nie habe ich hier einen anderen Hund gesehen. Was tue ich? Schon wieder denke ich über diesen Köter nach. Verächtlich betrachte ich das Tier. Was wohl passiert, wenn ich einfach die Leine los mache? Ob er dann auf nimmer Wiedersehen verschwindet? Ich bleibe stehen und ziehe an der Leine. Verwirrt schaut der Welpe zurück. Bisher bin ich seinem Willen gefolgt, nun scheint er nicht zu wissen, was der Stopp zu bedeuten hat. Ich halte die Leine straf, während ich auf ihn zu gehe. Er versucht vor mir zurück zu weichen und sich aus seinem Halsband zu winden. Ich gehe vor ihm in die Hocke und packe ihn im Genick. Ein einfacher Handgriff und das Tier ist von seinem Halsband befreit. Hastig suchte der Welpe das Weite. Ich sah ihm zufrieden hinterher. Gut so, soll er nur seine Freiheit genießen. Zehn Meter von mir entfernt bliebt er stehen und schüttelt sich. Ich erhebe mich und kehre ihm den Rücken zu. Ein Problem weniger. Die Leine und meine Jacke lasse ich fallen und gehe langsam weiter. Ich schaue nicht zurück, ich will nicht wissen, wohin der Welpe läuft und was aus ihm wird. Ich habe schon genug Verantwortung auf meinen Schultern. Die Gedanken an mein verlorenes Leben  kehren zurück. Ich muss an Aaron denken und was wohl aus ihm geworden ist. Kann er mit den Drachen konturieren? Jetzt wo es die Wölfe nicht mehr gibt. Wie es wohl …
Fell streift meine Beine. Ich sehe an mir hinab. Der Welpe läuft neben mir Beifuss, als wenn ich ihn mit einer kurzen Leine dazu zwingen würde. Ich bleibe erschrocken stehen und sehe zu der Stelle zurück, an der ich ihn zu letzt gesehen habe. Er ist mir die ganze Strecke hinterher gelaufen, aber warum? Jetzt wo ich stehen bleibe, steht auch er brav an meiner Seite. Er sieht zu mir hoch, als wenn er fragen will, warum wir angehalten haben. Dieses Tier verwirrte mich. Ich schüttelte mit dem Kopf und versuchte ihn zu ignorieren. Ich setze meinen Weg fort, in der Hoffnung, dass es nur ein Zufall war und er mich nicht weiter verfolgte. Vergebens. Jeden Schritt den ich mache, tut er mir gleich.  Ich weiß nicht was ich davon halten soll und entschließe mich dazu zurück zu den Klippen zu gehen. Ich will mich auf meinen Lieblingsfelsen setzen und darüber nachdenken. Ich laufe den Weg etwas schneller, um zu sehen, ob der Welpe noch immer Schritt hält. Er folgt mir bis zum Felsen im selben Tempo. Ganz langsam wird er mir unheimlich. Als er noch sein Halsband trug und angeleint war, war er vorgerannt und nun lief er wie ein gut erzogener Hund Seite an Seite mit mir. Will er einfach nicht zu etwas gezwungen werden und seine Richtung selbst bestimmen? Das erinnert mich an jemanden. Ich schüttle den Gedanken ab, bevor er in meinem Geist Gestalt annehmen kann. Ich will mich nicht an deinen Namen erinnern. Seufzend lasse ich mich auf den Felsen nieder. Der Welpe tapst an meine Seite und setzt sich zu mir. Ich beobachte ihn dabei, wie er auf das Meer hinaus sieht. Er erinnert mich an dich. Du musst mich nicht ansehen, um dir sicher zu sein, dass ich da bin und ich brauchte es auch nicht. Ich wende meinen Blick von dem Hund ab und sehe wie er über das Meer. Ob er sich vorstellen kann, wie es auf der anderen Seite aussieht? Bestimmt nicht! Er kennt nur dieses öde Landleben. Ob er wirklich ein Hund ist? Wieder sehe ich zur Seite und betrachte ihn erneut. Für einen Moment glaube ich dich neben mir zu sehen. Du schaust mich ernst an und doch glaube ich den Hauch eines Lächelns auf deinen Lippen zu erkennen.
“Ich denke er braucht einen Namen”, sagst du. Mir ist als wenn ich deine Stimme deutlich hören kann. Ich denke über deine Worte nach. Einen Namen? Das hieß ich würde dieses Tier behalten wollen.
“Das willst du doch schon seid, er aus der Kiste geschaut hat”, entgegnest du mir, als wenn du meine Gedanken gehört hättest. “Und du weißt auch schon einen Namen, oder?” Ich nicke, dann löst sich deine Gestalt auf. Übrig bleibt der Welpe neben mir. Er sieht mich an und legt den Kopf schief, als wenn er nur darauf warten würde, dass ich ihn einen Namen gab.
“Was hältst du von Toni?”, höre ich mich sagen. Es ist seltsam mein Stimme nach so langer Zeit zu hören. Beinah glaube ich jemand habe an meiner Stelle gesprochen.
Der Welpe schaut mich eindringlich an. Ob er darüber nachdenkt? Dann sieht er zurück aufs Meer. Er wirkt zufrieden. Ob ihm der Name gefiel?
“Na schön, dann eben Toni. Aber glaub ja nicht das du in meinem Bett schlafen darfst!”, lasse ich ihn wissen und greife nach einem Stein, der vor meinen Füßen liegt. Ich hole aus und werfe ihn ins Meer. Dort wird er von den Wellen verschluckt. Die Wolkendecke über uns beginnt sich aufzulockern. Einige warme Sonnenstahlen fallen mir ins Gesicht. Die Schnauze des Hundes streift meinen Oberschenkel. Als ich den Welpen ansehe hat er seinen Kopf in meinen Schoss gelegt und die Augen geschlossen. Ich gab mir die größte Mühe, aber ich kann mir ein Lächeln bei diesem Anblick nicht verkneifen. Dieser Verdammte Lui, warum muss er mir auch dieses Tier aufs Auge drücken. Das wirft meinen ganzen Plan über den Haufen.
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