3. Kapitel
~Mein Leben für deine Pistolen~
Toni saß auf dem Rand seines Bettes. Anette war gerade aufgestanden. Sie wollte ihm einen Tee machen. Er hatte sich heute Krank gemeldet und ihr eine Grippe vorgespielt. Als sie das Zimmer hinter sich ließ und die Tür der Küche nach sich schloss, zog Toni den Geldumschlag aus seiner Tasche. Er öffnete ihn und betrachtete die Scheine. War es wirklich richtig was er vorhatte? Anette hatte dafür gekämpft, dass sie den Ausstieg aus dem organisierten Verbrechen schafften und er war dabei, das alles mit Füßen zu treten.
Er sah an die Decke und dann auf den Boden. Kira spielte dort mit ihrer Puppe. Er hatte ihr mit einfachen Brettern ein Puppenhaus gezimmert. Eigentlich wollte er es längst gestrichen und ihr eine neue Puppe gekauft haben.
Der Puppe seiner Tochter fehlten die Haare auf dem Kopf. Ihre Kleid war alt und löchrig. Sie hatte dieses Spielzeug schon seid sie auf der Welt war. Es war neben dem Puppenhaus ihr Einziges. Toni beobachtete seine Tochter einen Moment lang. Sie versteckte die Puppe unter dem Bett des Puppenhauses und wies sie streng an:
“Da musst du jetzt bleiben, und ganz still sein!” Toni erkannte sich selbst in ihr wieder. Die ersten drei Jahre nach Enricos Ermordung hatte er Kira oft angewiesen, sie solle sich unter dem Bett verstecken und ganz still sein. Sie waren ständig auf der Flucht gewesen. Jede Nacht hatten sie in einer anderen Bleibe verbracht und manchmal einfach unter einer Brücke übernachtet. Jetzt hatten sie zumindest ein Dach über dem Kopf und mussten nicht immer wieder umziehen. Es gab niemanden der wusste, dass er hier mit seiner Familie wohnte. Trotzdem blieb die Bedrohung allgegenwärtig. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie gefunden wurden. Auch wenn er nie wieder eine Waffe anrührte, normal würde ihre Leben niemals werden. Den einzigen Schutz, den er sich wünschen konnte, war der von Aaron und den musste er sich erarbeiten. Toni nahm sich seine Jacke, die er bei seiner Rückkehr auf das Bett gelegt hatte. Er hatte eine Entscheidung getroffen, für sich und seine Familie. Nie wieder frieren im Winter. Keine Arbeit am Hafen mehr, bei der er lediglich seine Gesundheit ruinierte und damit noch nicht einmal seine Familie ernähren konnte. Er würde für Sicherheit sorgen, finanziell und für Leib und Seele.
Toni erhob sich. Er sah auf seine spielende Tochter, dann zog er sich seine Jacke an. Er ging zu ihr und legte den Umschlag mit dem Geld auf dem geraden Dach des Puppenhauses ab. Kira sah ihn fragend an. Er lächelte ihr zu. Sollte er nicht zurückkommen, hatten die beiden zumindest die 10. 000 Doller.
“Gib den deiner Mutter, wenn sie wieder aus der Küche kommt!”, wies er sie an. Kira nickte ohne Fragen zu stellen, so wie er es von ihr gewohnt war. Toni lächelte sie an. Kira war mit Abstand das Beste, was er je zu Stande gebracht hatte. Für sie würde er heute Abend kämpfen, die Waffen besorgen und in Zukunft für Aaron arbeiten.
Noch bevor Anette aus der Küche zurück war, verließ er das Apartment.
Er hatte sich längst einen Plan im Kopf zurecht gelegt. Er würde das Hochhaus durch ein
Kellerfenster betreten. Er war oft auf diesem Wege als Kind dort eingestiegen. Wenn er durch die Küche der Kantine ging und dann direkt den ersten Fahrstuhl nahm, vielleicht schaffte er es bis in den obersten Stock, bevor er entdeckt wurde. Dann musste er nur noch auf das Dach kommen. Für die Flucht hatte er sich einen Gleitschirm besorgt. Er würde einfach vom Dach springen. Unterwegs wollte er sich ein Motorrad stehlen. Damit konnte er den Tatort zügig verlassen. Das war vielleicht nicht sein bester Plan, aber für die kürze der Zeit, die er für die Planung gehabt hatte, musste es reichen. Er würde einfach auf sein Glück vertrauen müssen.
Toni erreichte den Stadtteil seiner Feinde unbemerkt. Mit dem gestohlenen Motorrad und eine Helm auf dem Kopf, fiel er niemandem auf. Gut so! Er parkte die Maschine zwei Blocks vom Hochhaus der Drachen entfernt und stieg ab. Den Rest des Weges würde er zu Fuß gehen. Im Schatten einer Seitenstraße pirschte er sich an.
Toni war eins mit dem Schatten, als er das Fenster erreichte, durch das er ins Hochhaus einsteigen wollte. Noch einmal sah er sich nach allen Seiten um. Niemand hatte ihn gesehen. Die Seitenstraße war leer. Sehr gut! Toni öffnete das Fenster, das stets auf Kippe stand. Der Koch ließ es immer offen, um zu “lüften“, zwar nur einen Spalt, aber der reichte Toni aus, es ganz zu öffnen. Den Tipp hatte er vom Koch persönlich bekommen. Dieser hatte damals Mitleid mit ihm gehabt und ihm immer wieder etwas Essbares zugesteckt, wenn Toni als Strafe mal wieder nichts bekommen hatte. Ob dieser Koch noch immer hier arbeitete? Toni wusste es nicht, aber da das Fenster noch immer auf Kippe stand, lag die Vermutung nah. Vielleicht hatte er jetzt einen anderen Schützling den er zu unterstützen versuchte?
Toni trat mit dem rechten Bein durch das offene Fenster.
“Was machst du da?”, hörte er eine Stimme hinter sich. Toni erschrak und fuhr herum. Im Zwielicht der schwachen Straßenbeleuchtung sah er den Umriss einer Gestalt. Sie war durchscheinend und verschwamm, als sie näher kam.
“Das ist mein Part, du solltest auf dem Dach liegen und mir Rückendeckung geben!” Enrico? Sah er ihn schon wieder? Toni blinzelte. Die Gestalt verschwand, die Stimme die er gehört hatte, klang in seinem Kopf nach. Er schüttelte das Bild ab. Es waren alles nur Erinnerungen. Enrico konnte nicht mehr vorgehen, während Toni ihm mit seinem Scharfschützengewehr vom gegenüberliegenden Hochhausdach Rückendeckung gab. Die Zeiten waren vorbei und Toni war auch nicht böse darüber. Nun war er es der sich in Gefahr brachte. Das war ihm allemal lieber als umgekehrt. Ohne einen weiteren Gedanken an die Erscheinung zu verschwenden, stieg er durch das Fenster ins Hochhaus ein.
Toni fand sich in einem dunklen Raum wieder. Hier roch es nach geräucherter Wurst und Käse. An beiden Wänden standen Regale mit den unterschiedlichsten Lebensmittel. Vom Salat bis zur vollen Milchpackung. Die Speisekammer der Kantine.
“Nicht schlecht, wie die Drachen leben. Schau dir das an! Edelsalamis und Fleur de sel. Am Hungertuch nagen die wirklich nicht!” Toni fuhr erschrocken zusammen. Schon wieder hörte er die Stimme seines Freundes und sah ihn vor dem linken Regale stehen. Er hielt eine der Salamis in der Hand und sah in seine Richtung. Er grinste breit, als er weiter sprach:
“Vielleicht sollten wir uns den Bauch vollschlagen, bevor wir uns erschießen lassen!”, schlug er vor. Toni konnte sich nicht erinnern, dass er diesen Moment je mit Enrico erlebt hatte. Woher also kamen diese Bilder und warum glaubte er Enrico klar und deutlich sprechen zu hören? Selbst die Salami hing schief, während er sie in der Hand hielt.
“Was schaust du so ungläubig? Glaubst du ich lass mir dieses Himmelfahrtskommando entgehen? Bis in den Tod und wieder zurück! Schon vergessen? Ich komm mit, ob du willst oder nicht!” Toni hatte es nicht vergessen. Er hatte das Versprechen, das sie sich als Kinder gegeben hatten, nie vergessen, aber das hier war zu verrückt. Als Toni noch einmal genau hin sah, löste sich die Gestalt seines Freundes auf. Die Salami pendelte zurück in ihre Ausgangsposition. Hatte er sich auch ihre Bewegung nur eingebildet. Toni lief zum Regal und sah sie sich genauer an. An ihr war nichts ungewöhnliches, bis auf die Tatsache, dass sie sich warm anfühlte, genau dort wo Enrico sie berührt hatte. War auch das nur Einbildung? War es nur seine eigene Körperwärme? Toni ließ die Salami los und versuchte sich keine Gedanken darüber zu machen. Er brauchte eindeutig etwas Schlaf, wenn er wieder zurück war. Noch eine schlaflose Nacht und er konnte sich ins Irrenhaus einweißen lassen.
Er versuchte seine Konzentration zurück zu gewinnen, während er sich der Tür näherte. Vorsichtshalber zog er seine Waffe aus dem Hosenbund und entsicherte sie. Er legte seine Hand um den Türknauf.
“Die Pistole wirst du nicht brauchen, da ist niemand vor der Tür!” Toni fuhr zusammen. Die Worte wurden direkt neben seinem Ohr gesprochen. Was zum Teufel war das nur?
“Verdammt noch mal! Lass das!”, knurrte er, obwohl er sich sicher war, allein in dieser Kammer zu sein. Wenn Enricos Geist ihn schon begleitete, konnte er dann nicht still sein? Auf Tonis Worte folgte ein schelmisches Lachen, dann war es wieder still. Toni atmete tief durch. Hoffentlich war nur er es, der diese Stimme hören konnte, sonst war er schneller Tod, als ihm lieb war.
Toni brauchte noch einen Moment, bis er sich von seinem Erlebnis erholt hatte. Erst als sein Atem ruhig und gleichmäßig ging und er sein Herz nicht mehr laut schlagen hörte, öffnete er die Tür. Er sah sich mit vorgehaltener Pistole in der Küche um. Niemand war hier. Enrico hatte recht behalten. Hatte er sich etwa wie ein Geist durch die Wand bewegt und hier umgesehen? Das war ein absurder Gedanke. Es gab doch gar keine Geister, oder doch? Nein, für solche Gedanken war jetzt keine Zeit. Er musste zum Fahrstuhl.
Auf leisen Sohlen schlich er bis zur Doppelflügeltür der Küche. Er hatte sie fast erreicht, als die Gestalt Enricos erneut vor ihm erschien. Er hatte den Zeigefinger vor die Lippen gelegt.
“Pischt!”, wies er ihn an still zu sein. Toni stutzte und blieb stehen. Dann konnte er Schritte hören. Jemand ging durch die Kantine. Die Schritte näherten sich der Küche. Ein Licht drang durch die runden Fenster in der Doppeltür. Toni hielt den Atem an. War dort ein Wachmann mit Taschenlampe unterwegs? Enricos Gestalt war vor ihm verschwunden. Toni konnte durch das Glass der runden Fenster in der Tür tatsächlich einen Wachmann erkennen. Ohne Enricos Hinweis, wäre er ihm direkt in die Arme gelaufen. War es also doch keine Einbildung? Die Schritte des Mannes kamen näher. Toni ging einen Schritt zur Seite, um nicht durch die runden Fenster gesehen werden zu können. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Mit festem Griff umschlangen seine Finger die Pistole. Sein Zeigefinger legte sich um den Abzug. Das war gar nicht gut. Wenn er schon hier schießen musste, kam er nie bis in den obersten Stock. Konnte die Aufmerksamkeit des Wachmannes denn nicht durch etwas abgelenkt werden?
Ein blechernes Geräusch ließ ihn aufhorchen. Irgendetwas war in der Kantine umgefallen. Das Licht der Taschenlampe richtete sich auf etwas anderes. War das Enrico gewesen? Toni atmete durch und spähte durch das runde Fenster. Der Wachmann hob ein Tablett auf, das von einem der Speisewagen gefallen war. Er legte es an seinen Platz zurück, dann sah er sich ratlos um. Er kratze sich am Kopf und leuchtete noch einmal die ganze Kantine aus. Dann zuckte er mit den Schultern und verließ den Raum durch eine Tür in der rechten Wand. Toni wartete noch einen Moment, bis er die Schritte des Mannes nicht mehr hören konnte. Erst dann wagte er die Küche zu verlassen. Als er die Flügeltüren öffnete und in die Kantine trat erschien die Gestalt seines Freundes neben ihm. Er lächelte verschmitzt:
“Gut oder? Als Geist mach ich mich gar nicht mal so schlecht!”, lacht er. Toni schüttelte nur mit dem Kopf über ihn. Enrico hatte scheinbar auch nach dem Tod sein sonniges Gemüt nicht verloren. Das hier machte ihm augenscheinlich Spaß. Das hatte Toni nie an ihm verstehen können. Sie konnten sich in größter Lebensgefahr befinden, Enricos guter Laune tat das keinen Abbruch.
“Von wegen Geist. Du bist nur ne Halluzination, weil ich zu wenig geschlafen habe!”, knurrte Toni im Flüsterton, dann schlich er sich weiter. Im Augenwinkel konnte er Enrico mit den Schultern zucken sehen, bevor er erneut verschwand.
Toni schlich sich bis zum Fahrstuhl. In dem dunklen Flur, von dem etliche Türen abgingen, war es so still, dass es Toni unheimlich zu mute wurde. Es herrschte stets reges Treiben im Hochhaus, auch Nachts. Enrico und er waren hier schon oft eingestiegen, aber nie war es so einfach gewesen.
“Gespenstig, was?” Toni erschrak. Schon wieder diese Stimme neben ihm. Wenn das so weiter ging, bekam er noch einen Herzinfarkt.
“Du bist hier das einzige Gespenst!”, fauchte er Enrico an, bevor er bis zum Fahrstuhl lief und die Kabine per Knopfdruck herbeirief. Er konnte Enrico dieses Mal nicht sehen, aber er war ganz sicher, dass er direkt neben ihm stand. Als die Fahrstuhltüren sich öffneten, erhob Toni seine Pistole. Vielleicht war bereits jemand in den Fahrstuhl gestiegen und würde ihm jetzt Ärger machen. Ein Lichtspalt öffnete sich und wurde immer größer. Toni war wie geblendet, durch das plötzliche Licht. Er musste blinzeln, bis sich seine Augen daran gewöhnt hatten. Dann erst erkannte er, dass die Kabine leer war. Erleichtert stieg er ein. Er betätigte den Knopf für die 50ste Etage und wartete ungeduldig darauf, dass sich die Türen schließen mögen. Endlich setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung. Toni suchte in seiner Jackentasche nach dem Schlüssel, den er von Aaron bekommen hatte. Als er fündig wurde, steckte er ihn in das dafür vorgesehene Schlüsselloch unter den Tasten für die Stockwerke. Er drehte ihn und betätigte den Knopf für den 60sten Stock. Der Fahrstuhl ruckte, als wenn er die Eingabe bestätigen wollte, dann setzte er seine Fahrt ungehindert fort. Toni atmete durch und sah in den Spiegel, der den Fahrstuhl von allen Seiten umgab. Neben sich sah er den verschwommen Umriss seines Freundes stehen. Er sah nachdenklich aus. Als Toni neben sich sah, war dort nichts zu sehen. Wie seltsam. Er konnte Enrico dieses Mal nur im Spiegel erkennen.
“Hast du eigentlich schon einen Plan, wie wir hier wieder raus kommen?”, wollte er auf einmal von ihm wissen. Toni hob eine Augenbraue und sah den Geist im Spiegel argwöhnisch an. Wieso sprach Enrico in der Mehrzahl? Er war ein Geist, er brauchte nur durch die Wand schwebe, oder? Als Toni schwieg, sah Enrico ihn eindringlich an.
“Du hast keinen, oder?” Toni deutete nur auf den Rucksack auf seinem Rücken. In ihm war der Gleitschirm verstaut, mit dem er vom Dach springen wollte, wenn sein Job erledigt war. Hoffentlich war Michael in seinem Büro, damit er ihn gleich während des Diebstahls über den Haufen schießen konnte.
“Meinst du nicht, dass das meine Aufgabe wäre?”, fragte Enrico ihn. Hatte er etwa Tonis Gedanken gelesen?
“Du bist Tod!”, entgegnete Toni ihm energisch.
“Sicher?” Enricos Blick mutete Toni seltsam an. Er erschien ihm auf einmal so real. Was meinte er mit sicher? Toni hatte gesehen, wie die Flammen seine Freund verschlungen hatten. Außerdem, wie sollte sein Geist ihn begleiten, wenn er nicht Tod war? Oder hatte Enrico etwas anderes gemeint? Toni wollte ihn gerade danach fragen, als sich Enricos Gestalt begann aufzulösen. Er sah wie Enrico sich durch das Gesicht fuhr, als wenn er etwas wegzuwischen versuchte. Irgendetwas schien er abzuwehren.
“Bähhh … Toni lass das. Lass mich schlafen!”, hörte er ihn sagen. Verstört sah Toni die Gestalt an, die immer blasser wurde. Was tat er denn? Er hatte sich nicht mehr gerührt, seid sie in den Fahrstuhl gestiegen waren.
“Enrico?” Toni sah neben sich und wieder in den Spiegel. Der Umriss seines Freundes war verschwunden. Er rieb sich die Augen und sah noch einmal in den Spiegel. Da war keine Gestalt und er hörte auch keine Stimme mehr. Die Anwesenheit, die er gespürt hatte, war verschwunden. Von einem Moment auf den anderen fühlte er sich in der Fahrstuhlkabine allein und verloren. Sein Herz verkrampfte sich, als wenn er den Freund noch einmal verloren hätte. War er wirklich da gewesen?
“Enrico?”, hörte er sich nach dem Freund rufen, doch es blieb still. Toni spürte wie das Verlustgefühl seine Kehle hinaufstieg und sie zuschnürte. Für einen Moment war es so gewesen, als wenn Enrico tatsächlich bei ihm gewesen wären, für einen Moment war es wie damals. Toni schluckte schwer. Er konnte sich diese Sentimentalität nicht leisten. Er wischte sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen. Ein lautes Bing, ließ ihn auf die Anzeigetafel schauen. Er war angekommen. Die Fahrstuhltüren öffneten sich. Toni versuchte durchzuatmen und sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Er musste sich zusammen reißen.
Es war nicht mehr weit bis zum Büro, das Aaron meinte. Auch hier im 60sten Stock war alles still. Hatte Aaron diese Nacht absichtlich ausgesucht? Hatte er gewusst, dass das Hochhaus heute wie ausgestorben war, oder war all das eine Falle? Toni trat vorsichtig aus dem Fahrstuhl. Er sah sich nach rechts und Links im Gang um. Es war niemand zu sehen und auch keine Schritte zu hören. Wie seltsam. War die Spitze der Drachen geschäftlich unterwegs? Waren sie vielleicht sogar bei Aaron? Toni nahm sich vor, sich nicht weiter zu wundern. Je schneller er diesen Job zu Ende brachte, um so besser. Er folgte dem Flur bis er eine große Tür erreichte.
Toni konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als Butch ihn zum ersten Mal hier her gebracht hat. Nur die ranghöchsten Auftragskiller und die Spitze des Clans durften sich hier aufhalten. Er war damals 14 Jahre alt gewesen, als Denijel ihn testen ließ und nach bestandener Prüfung als obersten Auftragskiller der Drachen einsetzte. Butch wurde sein Mentor und für wenige Monate war Tonis Leben hier tatsächlich angehendem geworden. Er hatte ein luxuriöses Apartment im Hochhaus beziehen dürfen und konnte sich in der Kantine, wann immer ihm danach war, den Bauch vollschlagen. Wenn er Enrico nicht begegnet und bei der Arbeit keine Fehler gemacht hätte, wäre er noch immer hier und würde seine Aufträge von den Drachen empfangen. Toni graute der Gedanke, mit Bucht und Michael gemeinsame Sache machen zu müssen. Im Auftrag der Drachen hatte er auch die Familie seiner Opfer töten müssen. Wenn bei den Drachen aufgeräumt wurde, dann gründlich. Dabei waren ihm auch etliche Kinder zum Opfer gefallen. Gräueltaten die Toni im Auftrag Aarons nie erledigen musste und die er nie wieder tun wollte.
Egal was sie auch dafür hatten durchmachen müssen. Toni war dankbar für jeden Moment mit Enrico und den Wölfen. Sie waren ihm eine Familie gewesen.
Augenblicklich kamen Toni der Lagerhallenbrand ins Gedächtnis zurück.
Toni schüttelte die Bilder ab. Er ersetzte sie mit einem tiefen Zorn. Für alles, was die Drachen seiner Familie und seinen Freunden angetan hatten, würde er heute und in den nächsten Nächten Rache üben.
Er öffnete die Tür zu Michaels Büro und trat ein. Auch hier war alles still. Es hatte sich nichts verändert. Der Schreibtisch stand noch immer vor der linken Wand. Die Bücherregale waren mit Aktenordnern vollgestopft. Nur eine Sache war neu. Die Vitrine, die Aaron angesprochen hatte. Sie stand direkt neben dem Schreibtisch. Toni erkannte die Pistolen seines Freundes schon von weitem. Sie funkelten im Licht der Stadt. Die Wände bestanden aus Glas und ließen genügend Licht herein um den Raum auszuleuchten. Toni konnte keine Bedrohung erkennen. Er ging ohne Vorsicht bis zur Vitrine und betrachtete die Pistolen von Nahem. Er konnte erst jetzt begreifen, dass Aaron tatsächlich Recht hatte und Michael die Waffen Enricos gestohlen und hier ausgestellt hatte. Sicher prallte er vor jedem Geschäftspartner damit, wie er sie sich zu eigen gemacht hatte. Tonis Blick verfinsterte sich. Diesem Schwein stand es nicht zu Enricos Namen überhaupt in den Mund zu nehmen, geschweige denn seine Pistolen anzurühren.
Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er die Neunmillimeterpistolen bei Aaron abgeholt und seinem Freund gebracht hatte. Enrico hatte ihm die Holzkiste aus der Hand gerissen und sie wie ein Weihnachtsgeschenk ausgepackt. Seine Augen hatten geleuchtet wie die eines Kindes. Unzählige Gefechte hatte er damit ausgefochten. Enricos Hände hatten diese Waffen tausendfach gehalten und abgefeuert.