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 2. Kapitel ~Das Leben des Anderen~

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Enrico
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BeitragThema: 2. Kapitel ~Das Leben des Anderen~   2. Kapitel ~Das Leben des Anderen~ EmptyDi März 06, 2012 3:29 pm

2. Kapitel
~Das Leben des Anderen~

Bevor er ihn kannte, lebte er wie ein hungriges Tier, immer auf der Suche, gehetzt und scheu. Er sprach mit keinem Menschen ein Wort und befolgte lediglich die Befehle die ihm erteilt wurden.

Seit zwei Tagen hat er nichts mehr gegessen, das ist seine Strafe für den verpatzen Auftrag und das Zuspätkommen von Gestern. Das Knurren seines Magens ist das Einzige, dass er hier oben hören kann, er versuche den Gedanken an Essen zu verdrängen, aber es gelingt ihm nicht. Überall glaubt er Lebensmittel zu sehen, aus den Fenstern werden Toastbrote, aus den Dächern und Schornsteinen, Bananen und Äpfel. Er schüttele mit dem Kopf, er muss sich konzentrieren, mit aller Kraft versucht er die Bilder aus seinem Gedanken zu verbannen. Ungeduldig beobachtet er das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Kann dieser Kerl nicht endlich nach Hause kommen? Er will auch nach Hause! Geschlagene fünf Stunden liegt er nun schon auf diesem Dach, er hat sich seit dem nicht bewegt, seine Beine hat er weit auseinander gestreckt, um sein Gewicht auf eine möglichst große Fläche zu verteilen, seine Haltung ist nicht unbequem, trotzdem schlafen ihm allmählich die Hände und Beine ein. Vor ihm liegt seine Scharfschützengewehr, er hat den Lauf auf den Vorsprung des Daches aufgelegt, damit ihm die Arme vom Halten nicht schwer werden. Dann warten, warten, warten …
Er weiß, dass seine Zielperson eine Wohnung im gegenüberliegenden Haus bewohnt und dass sie dort früher oder später auftauchen muss, aber bis jetzt ist das Licht in den dunklen Fenstern noch nicht angegangen. Er atme schwer aus und muss blinzeln, seine Augen brennen, vom langen konzentrieren beobachten, für einen Moment verschwimmt sein Blick.
Ein Lichtschein erhellt das Fenster! Augenblicklich rast sein Herz, sein Körper spannt sich an, er blinzle noch einmal, um wieder klar sehen zu können, dann öffnet er die Klappe des Zielfernrohr und sieht hindurch, automatisiert richtet er die Waffe aus. Ein Mann Mitte vierzig geht durch den Raum, er zieht sich die schwarze Lederjacke von den Armen und hängt sie über die Lehne eines Stuhls, der vor einem runden Tisch steht. Das ist er, der Mann auf dem Foto, seine Zielperson. Jetzt oder nie!
Er zwinge sich dazu ruhig zu atmen, noch einmal richtet er die Waffe aus, ein letztes Mal prüft er seine Haltung, dann hält er die Luft an, seinen Zeigefinger lege sich um den Abzug, alle seine Gedanken sind auf sein Opfer gerichtet, schließlich drückt er den Abzug und spüre den Rückschlag des Gewehrs. Er weiß, dass er getroffen hat, ohne noch einmal hinsehen zu müssen. Damit ihn die Spiegelung des Glases nicht verrät, deckt er das Fernrohr ab, dann beginnt er das Gewehr auseinanderzubauen, das hat er so oft geübt, dass er es im Schlaf kann. Die einzelnen Teile verstaut er zügig in seinem Rucksack, zum Schluss hebt er die leere Patronenhülse auf und steckt sie in seine Hosentasche. Nun nichts wie weg von hier!
Er rutsche vom Dachrand zurück und zwinge sich auf die Beine, jeder Muskel seines Körpers ist verspannt, sein Rücken fühlt sich an, als wenn er bei einer falschen Bewegung in der Mitte durchbrechen würde, er will sich strecken und dehnen, aber ihm läuft die Zeit davon. Es ist wichtig, dass er den Tatort so schnell wie möglich verlässt.

Es dämmert bereits, die ersten Sonnenstrahlen blinzeln zwischen den Hochhäusern hindurch und die Gefahr entdeckt zu werden steigt. Er schultert seinen Rucksack, ein heftiger Schmerz erschüttert seinen Körper, er beiße die Zähne zusammen und ziehe die Luft scharf ein. Warum hat er den Rucksack nur so schwungvoll aufgesetzt? Erst jetzt fällt ihm wieder ein, dass der Essensentzug nicht die einzige Strafe gewesen ist. Sein Ausbilder ist so wütend geworden, dass er ihm den Rücken grün und blau geschlagen hat. Einen Moment bleibt er regungslos stehen, bis der Schmerz nachlässt, dann setzt er sich zügig in Bewegung.

Er verlässt das Hochhaus und zwingt sich dazu, nicht nach oben zu sehen, als er die Straßenseite wechselt. Während er läuft, spitzt er die Ohren. Hat jemand das Splittern des Glases bemerkt, oder ist der Tote bereits entdeckt worden? Er schnappt einige Wortfetzen der Passanten auf, aber die drehen sich um Termine, die Exfreundin und das Wetter. Gut so, vielleicht läuft heute mal alles glatt.
Als er den Block hinter sich lässt, beschließt er nicht mehr an sein Opfer zu denken, er hat nicht lange genug hingesehen, um zu beobachten, wie seine Kugel, den Schädel des Mannes durchbohrt hat, ihm reichen die Toten, die er bisher auf dem Gewissen hat, er braucht keine weiteren, die ihn in seinen Alpträumen heimsuchen.

Sein Magen beginnt wieder zu knurren, der Gedanke an Essen, verdrängt die düsteren Bilder aus seinem Kopf.
Was wird er sich heute aussuchen? Einen Teller Nudeln mit Tomatensoße, Gulasch mit Knödeln oder gebratenen Fisch mit Reis? Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen, er sieht die Kantine bereits vor sich, mit ihren Auslagen der verschiedenen, warmen Speisen und der großen Salatplatten.
Wenn er nur daran denkt, wird ihm schon ganz schlecht vor Hunger, sein Atem geht Stoßweise, die Muskeln seiner Beine beginnen unter der Anstrengung zu brennen und sein schwarzes Hemd klebt ihm am Oberkörper fest. Nur noch ein Stück, nur noch vier Blocks, dann ist er im Stadtzentrum, dann ist er fast zu Hause. Wenn er Glück hat, ist er der erste in der Kantine, dann braucht er nicht anstehen und auf seine Essen warten. Gedanklich kann er die hübsche Köchin mit dem warmherzigen Lächeln schon sehen, wie sie ihm eine Kelle dampfender Nudeln auf einen Teller häuft, das Wasser läuft ihm bereits im Mund zusammen, beinah glaubt er die herzhaft, würzigen Fleischklöße, in der roten Tomatensoße schmecken zu können.

Sein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, ein wildes Stechen zwingt ihn dazu, langsamer zu laufen. Seine Kehle ist rau und wie zugeschnürt, das Atmen fällt ihm schwer, Übelkeit überkommt ihn und steigt langsam seine Kehle hinauf. Mit aller Kraft drängt er den Brechreiz zurück. Ein trüber Schleier legt sich über seine Augen, die Welt verschwimmt. Was ist jetzt wieder los? Seine Beine wollen sein Gewischt nicht mehr tragen, er muss stehen bleiben, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und einfach umzufallen. Mit den Händen sucht er nach Halt und findet ihn in den Maschen eines Drahtzaunes, seine Finger krallt er um das kalte Metall fest.

Er muss wieder einen klaren Kopf bekommen. Immer wieder atmet er aus und ein, nur langsam will sich das Stechen in seinem Magen beruhigen und das Schwindelgefühl sich legen, sein Blick klart sich auf, er kann die Straße, in der er sich befindet, wieder deutlich erkennen. Hinter dem Maschendrahtzaun erstreckt sich ein großer Basketballplatz, er besteht aus zwei Körben und trägt runden Markierungen auf dem Boden. Etliche Jugendliche lungern dort herum, doch keiner hat einen Basketball bei sich. Erst auf den zweiten Blick kann er erkennen, dass sich hinter dem Platz ein großes Backsteingebäude befindet. Auf dem rote Dach, mit seinen unzähligen Dachpfannen, erhebt sich ein kleiner Turm, in ihm ist eine Uhr eingelassen, deren spitz zulaufende Zeiger, auf kurz vor neun Uhr stehen. Seine alte Schule! Es ist lange her, als er selbst Schüler hier war, damals als seine Mutter noch lebte und er nicht auf das Wohlwollen seines Arbeitgebers angewiesen war. Er hat zu dieser Zeit nicht zu schätzen gewusst, wie schön es ist einfach zur Schule zu gehen. Der Unterricht hat ihn gelangweilt und er hat ihn oft geschwänzt, wenn er mit einem Lehrer nicht gut auskam. Jetzt wäre er froh, wenn er nur einen einzigen Tag dort verbringen dürfte. Ein ganz normaler Junge sein, spielen und sich mit Freunden verabreden. Was wäre das für ein Leben? All die Jungen und Mädchen dort, wissen nicht, wie gut sie es haben. Sie sind ausgelassen und scherzen miteinander, in kleinen Gruppen stehen sie zusammen und unterhalten sich scheinbar über die Belanglosigkeiten ihres Alltags. Das ist so anders, als er es inzwischen kennt. Wenn sich überhaupt jemand mit ihm unterhält, dann im Befehlston und nur über seinen nächsten Auftrag und die betreffende Zielperson. Während er in kurzen Sätzen Instruktionen bekommt, nickt er lediglich, ab und an kommt ihm ein "Ja"oder "Verstanden" über die Lippen, wirklich gesprochen hat er schon seit Wochen nicht mehr. Ob es möglich ist, es ganz zu verlernen?

Seine Aufmerksamkeit gleitet erneut über die Schüler auf dem Schulhof. Seine Augen bleiben an einem blonden Jungen hängen, der direkt zu ihm herüber sieht. Er scheint sich gerade in Bewegung setzen zu wollen und hält doch inne, als sich ihre Blicke treffen. Seine stechend blauen Augen ziehen ihn in seinen Bahn. Argwöhnisch mustert der fremde Junge ihn, als wenn er ihm direkt in die Seele blicken kann und die Tat von eben darin entdeckt hätte. So finster wie möglich versucht er den Blick des Blonden zu erwidern, doch es gelingt ihm nicht. Irgendetwas ist anders an diesem Jungen, als an den anderen Menschen. Er sieht nicht weg, ist es Interesse, dass er in den eisblauen Augen lesen kann? Interesse woran? An ihm? Das fühlt sich seltsam fremd an, er kann seinen finsteren Blick nicht aufrecht halten, er muss wegsehen, um diesem unbekannten Gefühl zu entfliehen. Unsicher sieht er auf seine Armbanduhr, um vor sich selbst, den Grund seines Wegsehens zu rechtfertigen.

Es ist bereits nach Neun Uhr! Viertel nach Neun soll er wieder im Hochhaus sein. Verdammt! Jetzt kommt er wieder zu spät. Ohne noch einen weiteren Moment kostbarer Zeit zu vergeuden, rennt er los, über die nächste Straße, vorbei an zwei parkenden Autos und hinein in die nächste Seitenstraße.


Zuletzt von Enrico am Do Jun 28, 2012 7:31 am bearbeitet; insgesamt 1-mal bearbeitet
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