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 3. Kapitel ~Abschied von Kira~

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Enrico
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BeitragThema: 3. Kapitel ~Abschied von Kira~   3. Kapitel ~Abschied von Kira~ EmptySa Jan 08, 2011 1:35 pm

3. Kapitel
~Abschied von Kira~
Den ganzen Heimweg musste Toni über Jans Worte nachdenken. Einen Sinn im Leben? Welchen Sinn konnte der Kerl ihm denn schon geben? Es war ja nicht so, als wenn seine Existenz jemals von Bedeutung gewesen wäre. Ein Mörder war nicht unbedingt das wertvollste Individuum der Gesellschaft. Was also konnte Jan daran ändern?

Die Straße, die Toni zurück in die Stadt gebracht hatte, endete an einem Bahnsteig. Nur noch ein paar Schritte und er war wieder zu Hause. Für diese Nacht hatte er seine Familie am stillgelegten Bahnhof zurück gelassen. Um nicht von ihren Feinden gefunden zu werden, wechselten sie jede Nacht ihren Aufenthaltsort, trotzdem bog er immer mit Besorgnis um die letzte Ecke. Waren sie noch hier? Ging es seiner Freundin und Tochter gut? Waren sie angegriffen wurden?
“Paaaapaaaa!”, gab die glockenhelle Stimme seiner Tochter Entwarnung. Über die Schienen, die von Gras und Sträuchern überwuchert wurden, kam sie ihm entgegen gelaufen. Obwohl es dunkel war, hatten die Kinderaugen ihn sofort erkannt und noch bevor sie sich ihm in die Arme warf, hatte Toni schon ganz von allein den Sinn seines Lebens entdeckt. Dafür brauchte er keinen Jan, keinen endlos langen Flug in die USA. Er lag genau hier, trug blonde Engelslocken und den Namen Kira. Seine vier Jahre alte Tochter, war alles was er brauchte.
Mit einem zufriedenen Lächeln hob Toni sie unter den Armen zu sich hinauf, drückte sie an sich. Es ging ihr gut, das reichte aus alle finsteren Gedanken aus seinem Gedächtnis zu vertreiben. Bis auf zwei.
Was machte sie außerhalb des Bahnhofes und müsste sie nicht bei ihrer Mutter sein?
“Du sollst doch nicht allein draußen spielen!”, mahnte er, um zu erfahren was sie hier so ganz allein tat.
“Aber Tante Judy ist da und mir war so langweilig.” Judy? Was wollte die denn schon wieder hier? Die Ehefrau Enricos kam in letzter Zeit ein wenig zu oft für seinen Geschmack zu Besuch. Auch wenn sie und die Mutter Kiras Freundinnen waren, erschienen ihm diese nächtlichen Treffen nicht normal. Zumal sie jedes Mal zu sprechen aufhörten, wenn er den Raum betrat und nun hielten sie es nicht mal für nötig auf Kira aufzupassen.
Mit seiner Tochter auf dem Arm überquerte Toni die Schienen, lief einem Gebäude entgegen, das sich nur als schwarzer Umriss vom Himmel abhob. Dieses Mal kam er hinter ihr Geheimnis, nahm er sich fest vor und trat lautlos durch die offen stehende Tür ein. Eine große Empfangshalle mit glattem Marmorboden tat sich vor ihnen auf, mehr war nicht zu erkennen. Lediglich Stimmen waren zu hören. Irgendwo im ersten Stock unterhielten sich zwei Frauen.
“Sie sind oben”, bestätigte Kira seine Vermutung. Viel zu laut empfand Toni ihre Stimme dabei. Irgendwie musste er Kira dazu bringen, dass sie ruhig war. Wenn er die beiden Freundinnen belauschen wollte, musste er mit seiner Tochter taktisch vorgehen:
“Psssscht! Wir wollen der Mama heute mal einen Streich spielen. Dazu müssen wir ganz leise sein!”
“Oh, ok!” Mit einem Nicken und beiden Händen vor dem Mund, gab Kira ihm zu verstehen, dass sie ruhig sein würde. Stolz betrachtete Toni sie noch einmal. Sie war wirklich ein liebes Kind, so artig und gehorsam.
Vor sich ließ Toni seine Tochter wieder runter und nahm sie an die Hand.
“Na komm!”, flüsterte er ihr noch zu, dann suchten sie sich gemeinsam ihren Weg durch die Dunkelheit bis zu einer Treppe. Die hölzernen Stufen knarrten leise unter jedem ihrer Schritte, während die Stimmen der beiden Frauen immer deutlicher zu hören waren:
“Warum nicht? Toni ist nicht da, das wäre die Gelegenheit.” Also doch, irgendetwas planten sie hinter seinem Rücken. So leise es die knirschenden Holzdielen zu ließen schlich er sich immer näher an den Raum heran, aus dem die Stimmen kamen und ging hinter der geöffneten Tür in Deckung. Durch den Spalt zwischen Tür und Wand sah er ins Innere. Im Schein einer Kerzenflamme konnte er seine Freundin Anette und auch Judy erkennen.
“Ich weiß nicht. Ich will das nicht ohne ihn entscheiden.”
“Aber du hast dich doch schon längst entschieden.”
“Schon, aber er hängt so an Kira.” Kira? Es ging um ihre gemeinsame Tochter? Besorgt fiel Tonis Blick auf das kleine Mädchen an seiner Hand, die geduldig mit ihm hinter der Tür wartete.
“Ja eben, er wird sie nie gehen lassen. Komm mit mir, meine Drei sitzen schon im Auto. Lass sie uns heute Nacht für immer von hier weg bringen.” Fassungslos sah Toni zurück in den Raum. Sie wollten sein kleines Mädchen wegbringen, aber warum und wohin?
“Ich weiß nicht. Das Heim war schön, aber… sie wird mir so unheimlich fehlen!” Heim? Damit hatte Toni endgültig genug gehört. Wütend ließ er die Hand seiner Tochter los und trat durch die Tür ins Zimmer ein.
“Wann hattet ihr vor mir das zu sagen? Wenn ihr sie schon weg gebracht habt?” Bei seiner lauten Stimme und den gesprochenen Worten, ergriff Kiras kleine Hand die seine. Nur flüchtig sah Toni an sich hinab und auf seinen kleinen Engel. Verängstigt sah Kira zu ihm auf und drückte sich an sein Bein. Sicher hatte sie verstanden worum es ging. Sie wollte nicht weg und er wollte sie nicht hergeben. Sofort zog Toni seine Tochter eng zu sich. Niemand würden sie mitnehmen, nicht so lange er es verhindern konnte.
“Was machst du denn schon hier?”, war Judys einzige Reaktion auf sein Auftauchen. Die Arme der jungen Frau verschränkten sich vor ihrer Brust, während sie ihn von oben bis unten abwertend musterte. Verachtung lag in ihrem Blick, während Tonis Aufmerksamkeit auf seine Lebensgefährtin wanderte. Sie die ihn so hintergangen hatte und nun nur einen Seufzer von sich gab. Auffordernd lag sein Blick auf ihr. Sie sollte reden, wenigstens irgendetwas zu ihrer Verteidigung anbringen, bevor er ihr ordentlich die Meinung geigen wollte. Aber sie schwieg, kam lediglich langsam und mit nachdenklichem Blick auf ihn zu. Ihre Augen waren sanftmütig, so wie immer, ihre Haltung hingegen war entschlossen, so als wenn sie für alles bereit wäre.
“Lass uns unter vier Augen reden”, schlug sie ihm vor, während sie um ihn herum die Hand ihrer Tochter faste, sie weg zog und sanft in Judys Richtung schubste. Sofort begann das kleine Mädchen zu weinen. Wie konnten diese Weibsbilder nur so grausam sein?
“Nein!”, versuchte Toni vergeblich seine Tochter zu greifen, sie wieder in die Sicherheit seines Rückens zu ziehen. Er würde sie nicht hergeben, niemals.
“Sie wird sie nicht mitnehmen ohne unserer Erlaubnis und nun komm mit mir.” Misstrauisch blieb Tonis Blick auf Judy haften, während Anette seinen Arm nahm und ihn mit sich zog. Eine unausgesprochene Drohung, einen zutiefst finsteren Blick, ließ er im Raum zurück. Sollte Judy mit seiner Tochter verschwinden, er würde sie ausfindig machen, dann konnte sie sich neben ihrem Mann beerdigen lassen. Dieses falsche Biest, das seine Familie zerstören, ihn um das Liebste bringen wollte. Hochkant würde er sie aus ihrer nächtlichen Unterkunft werfen, wenn er zurück kam. Scheißegal, dass sie mit Enrico verheiratet war, Toni hatte sie noch nie ausstehen können. Während in ihm immer mehr Wut aufstieg, merkte er noch nicht einmal wie sie das Zimmer verließen und Anette ihn in die Einsamkeit eines angrenzenden Raumes mitgenommen hatte.
“Ich weiß, ich hätte schon viel früher mit dir sprechen müssen, aber ich wusste nicht wie und jetzt fällt es mir auch schwer einen Anfang zu finden”, rief Anette ihn aus seinen Gedanken zurück. Schweigend beobachtete er sie dabei, wie sie die Tür hinter sich und ihm schloss. Sicher, sie hätte schon früher etwas sagen sollen, auch wenn seine Antwort die selbe gewesen wäre.
“Ich weiß du liebst Kira sehr, mir geht es doch genau so. Ich weiß auch du würdest für sie die Sterne vom Himmel holen, aber hast du dich hier mal umgesehen?” Verwirrt von ihren Worten ließ Toni seinen Blick durch den dunklen Raum schweifen. In der Finsternis war nur der Umriss des Fensters zu erkennen. Auf dem Boden lagen Spielsachen, so viel wusste er, auch wenn das Licht, das von außen ins Zimmer fiel, nicht ausreichte um es zu sehen. Es war Kiras Zimmer, in dem sie spielen konnte, wenn sie den alten Bahnhof für eine Nacht zu ihrem zu Hause machten. Was war daran so verkehrt?
“Wann hat sie das letzte Mal die Sonne gesehen? Würde sie nicht manchmal am Tag wach werden, wäre das schon Monate her!” Das war es also was Anette störte, die Dunkelheit? Aber das war nun mal ihr einziger Schutz.
“Sie ist eine Wölfin. Wir sind nun mal Nachtaktiv.”
“Das ist seit Jahren deine einzige Ausrede. Sie ist kein Wolf, sie ist ein Kind, Toni. Wozu kaufen wir ihr überhaupt bunte Spielsachen, für sie sehen sie ohnehin alle grau aus.” Das war es? Deswegen wollte sie Kira weggeben? Nur weil sie bisher die Sicherheit der Finsternis für sich genutzt hatten?
“Und deswegen willst du sie ins Heim geben?”
“Nein”, Anettes Stimme wurde leise, verlor sich beim Sprechen in einem Flüstern. Als wenn sie sich vor ihren folgenden Worten schützen müsste, legten sie beide Arme übereinander, während ihr Augen traurig den Boden musterten.
“Amy wurde vor einer Woche vergewaltigt. Judy hat sie nackt mit einem Red Dragon in ihrem alten Zimmer gefunden.” Amy? Die siebenjährige Tochter Enricos? Fassungslos sah Toni auf Anette. Sprach sie da wirklich die Wahrheit?
“Judy hat den Kerl sofort erschossen, aber das macht die Tat nicht ungeschehen. Deswegen drängt sie so darauf, dass wir Kira mit wegbringen und ich finde, sie hat recht!” Nur mit mühe erhob sich Anettes Blick wieder, sah ihn fragend an, als wenn sie sich irgendeine Reaktion von ihm erhoffte. Er aber war viel zu geschockt, um ihr zu antworten. Wie konnten dieses Schweine einem armen Kind…
Deshalb war Amy die letzte Woche so still gewesen, wenn Judy zu besuch war. Das dunkelhaarige Mädchen hatte immer so ausgelassen mit ihren zwei Brüdern und Kira gespielt. In letzter Zeit aber, saß sie nur schweigend auf dem Schoß ihrer Mutter und entfernte sich keinen Zentimeter von ihr. Er hatte sich schon gewundert, geglaubt sie wäre vielleicht krank gewesen. Aber so etwas…
Er wusste schon warum er diese Typen gnadenlos abschoss. Tonis Blick wurde finster, bedrohlich starrte er vor sich hin. Heute Abend würde mindestens noch einer dieser Kerle in schwarz dafür drauf gehen.
“Aber es ist nicht nur das…” Was kam jetzt noch?
“Kira hat mich heute Nacht etwas gefragt, was mich sehr nachdenklich gemacht hat.” Schweigen schlich sich für einen Moment ein. Anettes Blick sank unter seinem hinweg, so als wolle sie ihm die Worte ihrer Tochter nicht sagen, ihn davor schützen. Erst nach einem lang gezogenen Seufzer fuhr sie fort:
“Sie wollte wissen, ob ihr Vater ein böser Mensch ist und ob sie auch mal böse wird, wenn sie groß ist.” Wie ein Dolchstoß trafen Toni diese Worte. Das sollte seine Tochter wirklich gefragt haben? Wie kam sie überhaupt auf so einen Gedanken?
“Toni sie hat dich gesehen. Sehr oft sogar. Sie weiß genau, dass du nachts los gehst und Menschen tötest.”
“Und deswegen willst du sie mir wegnehmen?”
“Ich will sie dir nicht wegnehmen, aber ich will nicht, dass sie so groß wird. Ich will nicht mit ihr jeden Tag von einem Ort zum nächsten hasten, aus Angst man könnte uns finden. Ich will, dass sie in Sicherheit ist.” Das war eindeutig zu viel. Er hatte sie gut beschützt. Bisher war seiner Familie nichts passiert. Immer wenn Gefahr drohte, hatte sich Kira gut versteckt, so wie er es ihr beigebracht hatte. Während er den Feind in die Flucht schlug, blieb Anette bei ihrer Tochter. Fünf Jahre lang hatte seine Taktik gut funktioniert. Warum sollte es nicht auch weiterhin so klappen?
“Ich hab euch immer gut beschützt. Nie ist euch etwas passiert und ich kämpfe noch immer für Frieden.”
“Das ist nicht wahr Toni. Du kämpfst aus Rache und weist dich dabei noch nicht einmal selbst zu schützen. Wie oft bist du schon blutüberströmt nach Hause gekommen und mir nur noch halbtot in die Arme gefallen? Glaubst du Kira hat das nicht gesehen? Ständig muss sie Angst um ihren Vater haben, Angst um ihr eigenes Leben. Nie sieht sie die Sonne oder kann mal auf einem Spielplatz mit anderen Kindern spielen. Sie wird nie zur Schule gehen. Immer ist sie gebunden an ihr Zimmer, nur weil das ihr einziger Schutz ist. Das ist es nicht was ich mir für sie wünsche und du doch auch nicht.”
“Nein…doch, ahhh!” Was sollte er denn dazu sagen? Alles was Anette erklärte war so wahr und tat so unbeschreiblich weh. Nie hatte er darüber nach gedacht Kira wegzugeben, er wollte es einfach nicht. Das Kind gehörte zu ihm, alles hätte er für sie getan. Warum konnte er sie nicht beschützten, ihr kein friedliches und schönes zu Hause geben? Warum hatte er den Kampf nicht einfach sein lassen können? Warum war er auch nur ein so schlechter Mensch, dass selbst seine Tochter es schon merkte?
“Toni bitte. Unser Schicksal können wir nicht mehr ändern, aber ihres schon”, versuchte Anette ihn noch immer zu überzeugen. Ihre Stimme war sanft, ihr Blick friedlich. Er hatte weder sie noch seine Tochter verdient:
“Gut dann bringt sie eben weg, aber ich werde nicht mehr dabei sein.” Die Arme Anettes, die sich beschwichtigend um ihn legen wollten, stieß er bei Seite. Von Liebe und Zärtlichkeit wollte er nie wieder etwas wissen. Das war die letzte Trennung, die er erduldete. Wütend über sein Leben, über sich selbst, über das, was er war und was er nie sein konnte, verließ er den Raum. Dann sah er noch einmal in die Knopfaugen seiner Tochter, die ihn vom Nebenraum aus ansahen. Unweigerlich trieb ihn dieser Anblick die Tränen in die Augen, während ihm bewusst wurde, dass es das letzte Mal war, dass er sie sah. Die blonden Locken, das rundliche, blasse Gesicht. Anette hatte recht, ihr fehlte die Sonne. Sie sah richtig krank aus und alles nur seinetwegen.
“Toni warte!”, hallten ihm Anettes besorgter Ruf nach, aber noch bevor sie ihn erreichen konnte, war Toni schon über die Holztreppe verschwunden.

Kopflos lief Toni über die zu gewucherten Schienen zurück auf die Straßen Brooks. Was sollte er jetzt noch hier? Der Sinn den er in Kiras leuchtenden Kinderaugen gefunden hatte, war verschwunden.
Die Autos, die seinetwegen anhalten mussten, die ihm Hubkonzerte hinterher schickten, nahm Toni gar nicht wahr. Obwohl die Sonne schon zwischen den Häusern hindurch blitze, war für ihn noch tiefschwarze Nacht. Was sollte nun werden, ohne seine Tochter, seinen goldgelockten Engel? Schon der bloße Gedanke an sie schmerzte. Wieso hatte sie ihn auch bei seinen Rachefeldzug beobachten müssen? Warum war er überhaupt auf diesem Rachetrip?
Ohne das Toni wirklich Notiz davon nahm, hatte ihn seine Füße zurück zum Friedhof getragen. Für einen Moment blieb er vor dem großen Tor stehen, das ins Innere des Friedhofes führte.
Noch immer hallten in seinem Kopf Anettes Worte wieder, wie sie ihre gemeinsame Tochter ausgesprochen haben sollte: "Ist Papa böse und werde ich auch mal böse wenn ich groß bin?"
Hatte sie das wirklich so gefragt, ihn und seine Taten durchschaut? Warum hatte er sich nicht einfach ändern können? Der Kampf gegen die Drachen hatte schon lange keinen Sinn mehr. Es brachte Enrico nicht zurück und trotzdem war es besser gewesen, als nichts gegen diese schwarzen Teufel zu unternehmen.
Mit langsamen Schritten trat Toni durch das Tor, folgte dem weißen Kieselsteinweg bis zum Grab seines Freundes. Während er sich seine schwarzen Handschuhe von den Fingern zog, begannen die ersten Vögel den jungen Morgen zu begrüßen, aber Toni hörte sie nicht. Nichts vermochte ihn zu erreichen.
Als er vor dem Obelisken stehen blieb warf Toni seine Handschuhe gegen den Grabstein. Das alles war nur seine Schuld. Wäre Enrico noch am Leben, müsste er seinen Kampf nicht allein führen. Aber er war es nicht. Hatte sich aus ihrem schweren Leben einfach in den Tod geflüchtet.
„Du elender Feigling!“, begann er die Grabinschrift anzuschreien, „Warum hast du im Krankenhaus aufgegeben? Warum hast du nicht gekämpft, so wie ich? Ich pack das nicht ohne dich!“ Dem Druck seines Lebens gaben seine Beine nach. Mit den Knien voran ließ sich Toni auf das Grab seines Freundes fallen und brach in Tränen aus. Es war nicht fair, dass Enrico hatte sterben dürfen und er nicht. Toni wollte auch Ruhe und Frieden, für immer. Keine roten Drachen mehr, die ihm in dunklen Seitenstraßen auflauerten. Keine Schießereien und Auftragsmorde. Keine Angst. Keine Sehnsucht.
Als seine Knie den weichen Boden des Grabes berührten, fiel aus seinem Halfter eine der beiden Pistolen Enricos. Durch den trüben Schleier seiner Tränen hindurch sah Toni sie an. Allein ihr Anblick erinnerte ihn daran wie Enrico einst mit ihnen geschossen hatte. Unendlich viele Drachen waren ihnen schon zum Opfer gefallen.
Doch kein toter Drache hatte den Schmerz lindern können. Nicht einmal seine Wut auf diese Teufel, konnte das Blutvergießen dämpfen. Vielleicht war es ja jetzt an der Zeit, die Waffe ein mal gegen sich selbst zu richten, um alles zu beenden.
Mit diesem Gedanken, wischte sich Toni einmal mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen und hob die Waffe auf. Gemeinsam mit ihr, setzte er sich auf das Grab seines Freundes und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Obelisken.
"Ob du wohl sehr sauer wärest, wenn ich dir auf die Weise nach komme?", murmelte Toni leise vor sich hin und betrachtete die Waffe in seiner Hand. Seine Finger fuhren über die eingravierten Wölfe. Ein ganzes Rudel zog sich über den Lauf der Waffe und endete erst an dem elfenbeinweißen Griff. An ihm baumelte der kleiner Wolfskopfanhänger an einer silbernen Gliederkette im Wind. Eine Spezialanfertigung, die Enrico für sich hatte herstellen lassen und eigentlich waren sie auch nur für seine Hände gebaut wurden. Toni hatte lange üben müssen, bis er trotzdem mit ihnen zielgenau schießen konnte. Was Enrico wohl dazu gesagt hätte, wenn er sie für diese letzte Tat benutzte? Noch einmal erschien in seinen Gedanken das Lächeln seines Freundes, der ihn über ein Jahrzehnt lang begleitet hatte. Es war der falsche Weg, das wusste er, aber der richtige war so schwer.
Seufzend ließ Toni die Hand mit der Pistole neben sich fallen und lehnte den Kopf gegen den Obelisken. Mit geschlossenen Augen versuchte er wieder einen klaren Gedanken zu fassen.

"Dacht ich mir doch das ich dich hier finde." Eine Stimme? Hier auf dem Friedhof?
Erschrocken fuhr Toni zusammen und riss die Augen auf. Gerade noch spielte er in Gedanken mit dem Tod und nun wurde er auch noch dabei erwischt. Wer wagte es überhaupt, ihn hier zu stören?
Mit den Augen suchte Toni die Umgebung ab, bis sie an einen stattlichen Mann hängen blieben. Raphael war es gewesen, der ihn zu so früher Stunde suchte und trotz der Waffe in Tonis Hand, nicht zögerte ihn an zusprechen. Der gut einen Meter 90 große Schrank, war Enricos großer Bruder. Toni kannte ihn bald genau so lange wie seinen besten Freund. Zu dritt hatten sie die Wölfe gegründet. So viel hatte sich seit damals verändert und nichts davon war besser geworden.
"Was willst du?", versuchte Toni den alten Freund mit Unfreundlichkeit loszuwerden.

Aber Raphael ließ sich nicht abschrecken. Anstatt sich umzudrehen und wieder zu gehen, wie Toni es am Liebsten gehabt hätte, zog Raphael einen Brief aus seiner Jackentasche und ließ ihn auf Toni herabfallen.
"Der kam heute bei mir an!", fügte er hinzu.
Misstrauisch nahm Toni den Briefumschlag in die Hand und las erst die Anschrift und schließlich den Absender.
"Jan!", flüsterte er abfällig. Wann hatte der Kerl wohl das Ticket für den Flug in die USA abgeschickt, damit er ausgerechnet jetzt ankam? Scheinbar hatte er das schon länger geplant und nicht einmal die Tatsache, dass Toni keine Anschrift besaß, hatte ihn davon abhalten können. Es gab ja noch immer Raphael, der mit seiner Frau in einer Villa am Meer wohnte.
Seufzend ließ Toni den Brief zurück auf seinen Bauch fallen und lehnte sich wieder gegen den Obelisken. Die Augen geschlossen, hoffte er noch immer, Raphael würde ihn in Ruhe lassen.
"Willst du ihn nicht mal aufmachen?", wollte er von ihm wissen.
"Wozu? Ich weiß was drin ist."
"Sag mal hast du vor die da zu benutzen?" Von Toni fiel Raphaels Blick auf die Waffe, die dieser in der Hand hielt. Mit dem Fuß trat er gegen sie, um zu verdeutlichen was er meinte.
"Höchst wahrscheinlich", war Tonis ruhige Antwort, die er gefühlskalt zurück gab.
"Dann mach das irgendwo, wo du keine Flecken hinterlässt. Ich hab keine Lust deine Überreste vom Grab abzukratzen."
"Rutsch mir doch den Buckel runter." Was kümmerte Toni auch, was nach seinem Tod mit den Überresten seiner Leiche geschah.
"Du wirst dich nicht umbringen", ließ Raphael ihn wissen und wand sich zum Gehen. Das war alles? Mehr Worte hatte er nicht für ihn übrig? Grimmig folgte Tonis Blick Raphael, als dieser über den weißen Kieselsteinweg verschwand.
Und ob er sich umbringen würde, ging ihm unaufhörlich durch den Kopf, bis seine Hand fast automatisch auf den Brief wanderte, der noch auf seinem Bauch ruhte. Nachdem er ihn mit nur einer Hand geöffnet und das Flugticket samt Reisepass heraus gezogen hatte, überdachte Toni sein Vorhaben noch einmal. Was würde wohl seine Tochter davon halten, wenn sie irgendwann erfuhr, dass er sich selbst den Kopf weg geschossen hatte. Seufzend lehnte er sich zurück an den Grabstein.
"Was meinst du? Auf ein paar Stunden bis wir uns wieder sehen, kommt’s doch jetzt auch nicht mehr an, oder?", hauchte er in die leichte Brise, die um das Grab seines Freundes wehte. Noch einmal schloss er die Augen, und lauschte dem Rauschen der Kiefern hinter dem Grab. Endlich war es wieder so still und friedlich wie zuvor. Keine Schreie, keine lauten Motorengeräusche, nur das Zwitschern der Vögel, die noch immer die Schönheit des Sonnenaufgangs besangen.
Schließlich legte sich Tonis Hand um den Griff der Waffe und um deren Abzug. Den Lauf legte er im Gras neben dem Grab ab und drückte ab. Immer wieder, bis die Waffe nur noch leise klickte. Bevor er noch einmal auf die Idee kam die Waffen gegen sich selbst zu richten, sollte das Magazin in ihr leer sein.
Erst als der letzte Schuss in den Baumwipfeln verhalte, sah Toni wieder auf.
"Und es gnade dir Gott Jan, wenn's nicht wichtig war." Dann erst gelang es Toni wieder aufzustehen und den langen Weg in die USA auf sich zu nehmen.
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