1. Kapitel
~Das Leben des Einen~
Es war im Sommer 1923. Ich kann mich noch an die drückende Hitze erinnern, die den Asphalt schmolz und die Stadt zum Stöhnen brachte.
Du bist schon oft hier gewesen, hast dort am Zaun gestanden und kein Wort gesagt. Vielleicht habe ich dich deswegen nie bemerkt. Du gehörtest nicht in meine Welt und doch scheint es mir heute wie Schicksal, als ich dem Ball nach lief und sich unsere Blicke für einen Moment trafen.
Dein schwarzes Haar war verschwitzt, dein Gesicht bleich und eingefallen. Du sahst mich mit einer Mischung aus Wut und Abscheu an und doch ich glaubte in den smaragdgrünen Augen nur traurige Einsamkeit zu lesen.
Wer bist du? Was machst du jeden Tag hier, wenn du doch offensichtlich nicht hier zur Schule gehst? Gehst du überhaupt irgendwo zur Schule? Um diese Zeit hat jede Schule längst begonnen. Ich will dich das alles fragen und dich dann einladen, mit uns zu spielen. Doch irgendetwas an dir zieht mich wie magisch an und lässt mich kein Wort heraus bringen.
Du siehst auf die Uhr an deinem Handgelenk. Dein Blick verfinstert sich, dann rennst du los. Erst langsam, schließlich immer schneller. Ich sehe deine dürre Gestalt hinter der nächsten Hausecke verschwinden und frage mich noch immer wer du wohl bist. Noch lange sehe ich dir fasziniert hinterher, bis ich von den Rufen meiner Freunde aufgeschreckt werde:
"Enrico, was brauchst du so lange?"
"Wir wollen weiter spielen!"
"Wo bleibt der Ball!"