??. Kapitel
~Wir sind noch hier~
“Ist es nicht toll hier?”, wollte ich von ihm wissen. Ich hatte mich auf den erhöhten Absatz des Daches gestellt. Noch nie zuvor hatte ich jemanden mit hier her genommen, nicht einmal ihn. Hier war meine stille Zuflucht, hier her kam ich um nachzudenken, um Entscheidungen zu treffen.
Ich schloss die Augen und lauschte den gedämpften Geräuschen meiner Stadt. Das Sirenengeheul eines Streifenwagens, das Hupen genervter Autofahrer. Der Wind zog an meiner Jacke und brachte meine Haare durcheinander. Wild schlugen sie mir ins Gesicht. Ich liebte, die Gerüche die er zu mir wehte, eine Mischung aus Smog und Gewürzen.
Tonis Schritte kamen nicht näher. Was hatte er denn? Ich öffnete die Augen und sah auf ihn zurück. Er sah sich ratlos auf dem Dach um, bis er schließlich fragte:
“Was wollen wir hier?” Ich hatte ihm nicht gesagt wo wir hingehen würden, auch nicht was ich mit ihm vorhatte, wenn wir dort waren. Es sollte eine Überraschung werden. Ich lächelte ihn an und wand meinen Blick wieder von ihm ab. Der Mond war hinter einem der Wolkenkratze aufgegangen. Er war blutrot, ich bewunderte seine Schönheit. So voll hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen. Er thronte als einziger sichtbarer Himmelskörper am schwarzen Firmament. Abermillionen Lichter der Stadt funkelten mit ihm. Es gab keinen Ort an dem ich lieber sein wollte, als hier. So schrecklich die Dinge hier auch manchmal waren, ich liebte diese Stadt.
Toni kam näher. Er blieb direkt hinter mir stehen. Ich hörte ihn seufzen, bevor er mich fragte:
“Wieso sind wir hier?” Sein Tonfall war ungeduldiger geworden. Es war sicher klüger ihm zu antworten, wenn ich wollte, dass auch er diesen Abend genoss.
“Ich wollte mir dir allein sein”, ließ ich ihn wissen. Ich sah über die Schulter zu ihm. Er sah skeptisch zurück. Ich musste über ihn schmunzeln. Was er jetzt wohl dachte? In den letzten Wochen war ich nicht sehr umgänglich gewesen und besonders Toni hatte darunter leiden müssen. Kein wunder das er sich über meine romantischen Anwandlungen wunderte. Er zog eine Augenbraue in die Höhe.
“Mit mir allein?”, wollte er misstrauisch wissen, während er bockig anfügte, “Glaub ja nicht das ich schon wieder mit dir …”
“Toni, bitte …”, unterbrach ich ihn rasch. Ich hatte ihn nicht her gebracht um über ihn herzufallen, auch wenn ich mit dem Gedanken mittlerweile spielte.
Ich setzte mich auf den Vorsprung, auf dem ich gestanden hatte und ließ die Beine über den Rand des Daches baumeln. Mit der flachen Hand klopfte ich auf den freien Platz neben mir und bat ihn:
“… setzt dich zu mir!” Er warf mir einen letzten misstrauischen Blick zu, bevor er meiner Bitte nachgab und sich zu mir setzte. Einen Moment lang sahen wir uns schweigend die Stadt unter unseren Füßen an. Ich überlegte wo ich anfangen wollte, es gab so vieles, dass ich ihm sagen wollte. Schließlich war er es wieder, der zu sprechen begann:
“Los jetzt, raus mit der Sprache, warum sind wir hier? Soll ich wieder irgend wenn abknallen, der dir nicht in den Kram passt?” Ich lachte leise über seinen Gedanke, seine Vermutung amüsierte mich, kamen wir doch tatsächlich nur auf das Dach eines Hochhauses wenn wir töten wollten. Ich überging seine Worte und schnitt ein neues Thema an:
“Du bist der erste, dem ich das hier zeige!” Während ich sprach, betrachtete ich noch einmal all die Lichter der Stadt und den roten Mond direkt vor uns. Toni warf mir einen flüchtigen Blick zu, bevor auch er sich umsah.
“Ich komme immer hier her, wenn ich mich schwach und ratlos fühle”, sprach ich weiter und legte den Kopf in den Nacken. Es war keine einzige Wolke am Himmel und dennoch schaffte es kein Stern durch das Lichtermeer der Stadt hindurch.
“Ich hab hier schon stundenlang gesessen und mir Gedanken über unsere Zukunft gemacht. Jedes Mal, wenn du mich darum gebeten hast, die Stadt mit dir zu verlassen und alles hinter uns zu lassen, kam ich her. Ich habe viele Ausreden gefunden, warum ich nicht mit dir kommen will, aber die Wahrheit ist …” Ich sah zurück auf die vielen Häuser und Wolkenkratzer, auf alle die Straßen, die ich wie meine Westentasche kannte und all die vielen Menschen die nicht wussten, dass es uns hier oben gab.
“… Ich will nicht weg. Ich liebe diese Stadt, ich bin hier aufgewachsen, ich kenn jede Straße, hier sind meine Geschäfte, hier ist mein Leben und hier will ich sterben. Ich habe dich hergebracht, um dir zu zeigen, wie schön sie sein kann.
Willst du wirklich wo anders neu anfangen und alles aufgeben wofür wir seid elf Jahren kämpfen? Willst du wirklich mit mir ein ruhiges Leben führen? Soll ich mich wirklich ändern? Mir wird schon langweilig wenn ich mal einen Tag zu Hause bleibe um vorzurichten. Ich weiß nicht ob ich das kann, wenn du mich nicht irgendwo anbindest. Ich weiß das ich mich ständig selbst in Gefahr bringe, dass ich unvorsichtig bin, dass ich dir und allen anderen immer wieder Sorgen mache. Ich weiß das ich etwas ändern muss, aber ich weiß nicht wie ich das schaffen kann und ob ich das auch wirklich will …”
Ps.: Ich wollte dich fragen, ob du mir hier vielleicht bei der Entwicklung des Gespräches helfen kannst. Ich hab deine Reaktion nicht mehr vollständig im Kopf. Wir haben in dieser Nacht über so vieles gesprochen. Ich wollte mich endlich mal den Gesprächen stellen die ich sonst immer gemieden habe. Wir könnten das ja wie ein kleines RPG machen, wenn du Lust hast. Würde diese Gespräche einfach gern noch einmal mit dir führen. Von der Zeit her spielt es eine Woche nach dem Giftanschlag. Knuddel
Dein Eni